Gastbeitrag von Prof. Dr. Hartmut Walz
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf uns alle ist enorm und in dieser Form noch nie dagewesen. Die Aufrechterhaltung von Gesundheitswesen, Pflege, Infrastruktur, Logistik, Handel und nicht zuletzt Bildung bringt überall Heldinnen und Helden hervor. Ich bitte Sie trotzdem um Nachsicht, wenn ich mich im Folgenden auf die Auswirkungen der Corona-Krise auf die internationalen Kapitalmärkte beschränke. Da ich von den meisten anderen Themen nicht viel verstehe, versuche ich, in finanziellen Dingen Orientierung und Versachlichung zu geben.
Verstehen, was gerade geschieht
Was passiert derzeit an den Finanzmärkten und Börsen weltweit? Wir erleben seit Anfang März 2020 einen so genannten deflationären Schock. Nicht nur die Aktienkurse sind stark gesunken. Sondern auch die Preise aller anderen wichtigen Anlageklassen. Bei Immobilien sind die Auswirkungen nicht unmittelbar sichtbar, werden doch deren Preise nicht sekündlich festgestellt und an die jeweilige Hauswand geworfen. Die nächsten Wochen und Monate werden – so fürchte ich – zeigen, dass auch die Immobilienpreise sinken. Anleihen und Gold als eigentlich typische Gegengewichte zur Kursentwicklung von Aktien verloren im Laufe der letzten Wochen bereits an Wert.
Risikoscheue Anleger trennen sich derzeit lieber mit begrenztem Verlust von ihren Anleihen, als das sie das sich vergrößernde Risiko eines späteren Totalausfalls tragen. Selbst die Preise von Anleihen bester Bonität, wie z. B. Staatsanleihen sanken. Erstens, weil bei vielen Staaten die zusätzlichen Schuldenlasten durch die Krise auch deren Bonität beeinträchtigen könnten. Zweitens, weil viele (auch institutionelle) Anleger im allgemeinen Preisverfall anderer Anlageklassen zur Rückzahlung von Wertpapierkrediten ihre Staatsanleihen verkaufen, da diese noch die vergleichsweise geringsten Verluste haben. Und durch den massenhaften Verkauf von Staatsanleihen sinken dann auch deren Kurse (und steigen parallel ihre Renditen).
Ähnlich sieht es bei Gold aus. Der Goldpreis litt, weil die Rückzahlung fälliger oder sich verteuernder Wertpapierkredite auch durch Goldverkäufe im großen Stil gegenfinanziert wurde. Damit sank (in überschaubarem Umfang) auch der Goldpreis. Das führt dazu, dass die Aufgelder für den Erwerb von Münzen und kleinen Barren gegenüber dem offiziellen Goldpreis seit Jahresanfang kräftig angestiegen sind. Außerdem, dass physisches Gold aktuell das Schicksal von Toilettenpapier und Nudeln teilt – temporär nämlich ausverkauft ist. Mit anderen Worten: Egal in welche Anlageklasse Sie aktuell investieren möchten, Sie bekommen gerade mehr Aktien, Anleihen und Gold für Ihr Geld. Das heißt, die Kaufkraft des Geldes hat zugenommen, Ihre Liquidität hat an Wert gewonnen.
Unterschied zwischen deflationärem Schock und „klassischer Deflation“
Ein deflationärer Schock liegt also vor, wenn die Preise und Kurse aller (oder nahezu aller) Anlageklassen sinken. Davon zu unterscheiden ist die Lohn- und Preisentwicklung auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten. Nur wenn Löhne sowie Preise von Gütern und Dienstleistungen dauerhaft verfallen, also neben den Anlageklassen auch die güterwirtschaftlichen Faktormärkte betroffen werden, liegt eine klassische Deflation vor.
Deflationsspirale
Hat die Deflation erst einmal die Güter- und Dienstleistungsmärkte erreicht, tritt mit größter Wahrscheinlichkeit eine sich selbst verstärkende Wirkung auf, die als Deflationsspirale bezeichnet wird. Unternehmen erwarten sinkende Nachfrage und Preise. Sie halten sich daher mit Investitionen (z. B. in neue Produktionsanlagen) zurück. Private Haushalte senken ihre Konsumausgaben. Es kommt zum Angstsparen. Aber auch zu spekulativer Konsumzurückhaltung (z. B. müssen das neue Auto oder die neue Musikanlage warten, die Preise könnten ja noch weiter sinken). Soweit also zur klassischen Deflation und Deflationsspirale. Zurück zum deflationären Schock.
Zu hohe Verschuldung als Ursache des deflationären Schocks
Das neuartige Corona-Virus ist jedoch nur ein Auslöser und nicht die Ursache für den derzeitigen deflationären Schock. Die Ursache eines deflationären Schocks liegt immer in zu hohen Schulden. Anfang 2020 betrug die weltweite Gesamtverschuldung fast das Dreieinhalbfache der Weltwirtschaftsleistung. Das war definitiv zu hoch. Und es geht nicht nur um Staatsschulden. Relevant ist vielmehr die Gesamtverschuldung der drei volkswirtschaftlichen Sektoren Staat, Private Haushalte und Unternehmen (ohne Finanzinstitute).
Und wie funktioniert die Wirkungskette?
In Zeiten niedriger Zinsen und der Zuversicht von Gläubigern in die Bonität ihrer Schuldner wächst die Verschuldung. Und wächst und wächst. Bei niedrigen Zinsen und üppig sprudelnder Liquidität werden selbst viele Sachwerte (insbesondere Aktien) auf Kredit gekauft, was dann die Preise (Aktienkurse) treibt. Sobald entweder die Zinsen oder aber die Risikoprämien sich erhöhen, kommen die Schuldner jedoch in Bedrängnis. Und sobald die Zuversicht in weiter steigende Vermögenspreise (Aktienkurse) sinkt, ebenfalls. Mit dem Corona-Virus kamen gleich zwei Dinge zusammen, nämlich steigende Risikoprämien und sinkende Zuversicht. Und nun läuft der Effekt rückwärts. Die Finanzierung von Wertpapierkäufen bzw. die Verlängerung bestehender Finanzierungen wird schwieriger. Sinkenden Preisen von Aktien oder anderen Sachanlagen stehen unverändert hohe Schulden gegenüber. Das führt schnell zum Zustand der Überschuldung (also der Auszehrung des Eigenkapitals). Und damit zu Insolvenzen.
Regierungen und Zentralbanken können Deflationsspirale verhindern
Während ein deflationärer Schock, wie wir ihn gerade erleben,
– durch ein gleichgerichtetes Massenverhalten vieler Marktteilnehmer ausgelöst wird,
– in einer vernetzten Welt meist alle globalen Finanzmärkte in kürzester Zeit erreicht und
– sich schneller als das Corona-Virus ausbreitet,
benötigt die Deflationsspirale mehr Zeit und kann unter günstigen Umständen von Zentralbanken und Regierungen abgewendet werden.
Was können Zentralbanken und Regierungen tun, damit aus einem deflationären Schock keine deflationäre Abwärtsspirale wird? Zentralbanken können Zinssenkungen und die Bereitstellung zusätzlicher Liquidität herbeiführen. Regierungen können zinslose Überbrückungsfinanzierungen, jedoch auch Staatshilfen mit Subventionscharakter in verschiedenster Form (vom Kurzarbeitergeld, über Ausfallzahlungen bis hin zur Entschädigung für angeordnete Schließungen etc.) sowie Bürgschaften, kreditfinanzierte Investitionsprogramme oder Investitionen in Infrastruktur sowie weitere „kreative“ Instrumente (ein solches war z. B. die Abwrackprämie) veranlassen.
Aus Deflation wird schnell Inflation
Ganz gleich, welche dieser Maßnahmen ergriffen werden, hat die Abwendung von Deflation ihren Preis und ihre Nebenwirkungen. Ganz sicher wird der Staat von einer erheblichen neuen Schuldenlast getroffen, die nicht nur in der Eurozone, sondern weltweit auf ohnehin bereits stark verschuldete Gemeinwesen trifft.
Seriöse Langfristanleger sollten hohe Aktienquote beibehalten
Wer einen kurzfristigen Anlagehorizont besitzt, sollte dem Gedanken „Cash is King“ folgen – alles andere wäre zu risikoreich und unseriös. Jedoch sollten verantwortungsvolle Langfristanleger, die z. B. ihre Altersvorsorge in 15, 20 oder mehr Jahren im Blick haben, ungeachtet der aktuellen Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten eine hohe Aktienquote (z. B. 60 – 70 %) beibehalten und sich nicht von den marktschreierischen Unkenrufen der Crashpropheten verängstigen lassen.